Leseprobe aus: "Mord im Quadrat", Erzählungen (2008)

 

 

 

Wenn Frösche schweigen

 

 

Er hörte ein Geräusch hinter sich. Er fuhr erschrocken herum und seufzte erleichtert auf. Es war nur ein großer Frosch, der aus dem Teich auf einen Stein am Ufer gesprungen war. Der Frosch saß unbeweglich da und sah ihn mit seinen vorstehenden Augen an.

„Du kannst nicht reden“, murmelte der Mann vor sich hin. „Aber sicher ist sicher.“

Er warf seine Zigarette hinter sich, machte einen Schritt auf den Frosch zu, holte mit dem Bein aus und trat zu. Der Tritt schleuderte den Frosch gegen das Becken des Springbrunnens. Seine Hinterbeine zuckten noch einmal, dann lag er still.

„Ab zu deinen Kameraden“, sagte der Mann und stieß den Frosch mit der Fußspitze ins Wasser. Mit einem Plumps fiel das Tier zwischen die Teichrosen. Das Quaken von unzähligen Fröschen zerriss die Stille der Nacht. Brockmann hielt sich die Ohren zu und entfernte sich rasch vom Teich. Er hatte mich nicht bemerkt.

 

 

Unzählige, na ja, leicht übertrieben, aber zwei Dutzend Frösche tummeln sich schon im Teich. In meinem Leben habe ich mich selten in einem Menschen getäuscht. Bei Brockmann lag ich vollkommen daneben. Als er vor einem halben Jahr im „Maria Segen“ anfing, hatten viele das Gefühl, ein neuer Umgangston halte Einzug. Eine bisher nicht gekannte Leichtigkeit.

 

 

Sterben gehört zum Leben, heißt es so schön. Bei uns muss dieser Satz abgeändert werden. Sterben ist das Leben. Alle ein, zwei Wochen stirbt jemand im „Maria Segen“. Als Frau Miller starb, wurde getuschelt. Ich hatte morgens noch mit ihr geredet. Sie war bettlägerig, hatte meist Schmerzen und jammerte viel. An diesem Morgen war sie gut gelaunt. Es sei ein Segen, dass es Roger Brockmann gebe. Er sei ihr Engel. Damals interpretierte ich den Satz als Aussage einer verwirrten Frau. In der folgenden Nacht starb Frau Miller. Herzstillstand stand im Totenschein. Es folgte der Auftritt ihrer Tochter. Verschwundenes Geld. Gestohlener Schmuck. Alles im Zimmer aufbewahrt. Ich weiß noch, wie ich mich aufregte. Diese Person hatte sich nicht um ihre Mutter gekümmert, zwei Besuche im Jahr, jetzt diese Szene.

 

 

Ich weiß nicht, ob Sie eine Vorstellung haben, wie es in so einem Heim zugeht. Zwei Pfleger auf fünfundzwanzig, dreißig alte Menschen. Den Pflegern ausgeliefert. Alte, debile Menschen, am Bett festgebunden, wund gelegen. Sie finden, ich übertreibe? Leichen emotionslos im Gang abgestellt wie Gegenstände. Menschen, ihrer Würde beraubt. So sieht es aus. Hier im „Maria Segen“. Und in jeder Stadt. Direkt vor Ihrer Haustür. Brockmann nahm sich Zeit, kümmerte sich, war freundlich. So gewann er das Vertrauen. Auch ich stand ihm anfangs wohlwollend gegenüber. Einsamkeit. Das Schlimmste, müssen Sie wissen, ist die Einsamkeit.

 

 

In jener Nacht, als die Frösche aufschrien, saß ich im Innenhof auf der Bank vor der Eberesche, zog wie ein Ertrinkender an der Zigarette, hielt den Rauch lange in der Lunge, oder besser in dem, was davon übrig ist. Ich weiß, ich sollte nicht rauchen. Vor achtzehn Jahren Lungenkrebs. Riskante Operation. Einen Großteil des rechten Lungenflügels entfernt. Langwierige Chemotherapie. Natürlich hörte ich damals mit dem Rauchen auf. Dafür sorgte schon meine Frau. Sie starb vor drei Jahren. Ich bin schon lange nicht mehr gut auf den Beinen. Ohne Gehhilfe läuft nichts. Arthrose im Hüftgelenk. Ab und zu eine Cortisonspritze, jeden Tag Tabletten. So lässt es sich ertragen. Meistens jedenfalls. Dann ließ ich die Herdplatte an, nein, nicht, was Sie denken, kein Zimmerbrand, nur ein wenig Ruß. Aber mein Sohn nahm diese Lappalie zum Anlass, mich in ein Heim zu stecken.

„Du bist nicht mehr in der Lage, deinen Alltag zu bewältigen!“, sagte er.

Dabei bin ich vollkommen klar im Kopf. Im „Maria Segen“ habe ich wieder zu rauchen angefangen. Manuel, mein Enkel, der mich jede Woche besucht, meint, das sei unvernünftig. Er hat Recht. Aber ich werde nächsten Monat 83. Meine Lebenserwartung sinkt durch das Rauchen. Richtig! Von 87 auf 85! Na und? Manuel versorgt mich mit Zigaretten. Und wenn ich sonst was brauche. Zum Beispiel Hanteln. Oder einen Expander.

 

 

Es ist verboten, strikt verboten, in den Räumen des Heims zu rauchen. Wir haben Schwestern mit unglaublichen Nasen. Die könnten glatt als Spürhunde eingesetzt werden. Wenn mich nachts ab und zu mein Hüftgelenk plagt, stehe ich auf, greife nach meinem Rollator und mache mich auf den Weg in den Innenhof. Der Platz am Froschteich ist mein Lieblingsplatz. Wenn Brockmann Nachtdienst hat, treffe ich ihn im Hof. Meist sieht er mich gar nicht, wenn er hastig an seiner Zigarette zieht. Aber wenn er mich wahrnimmt, nickt er mir zu. Als er nach dem Frosch trat, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich Brockmann falsch eingeschätzt hatte. Er war kein guter Mensch.

 

 

Am Morgen, als nachts die Froschleiche im Teich gelandet war, fanden sie Frau Anger. Der achte Todesfall in gerade mal vier Wochen. Selbst für „Maria Segen“ eine zu hohe Zahl. Am nächsten Morgen tauchte ein Kommissar von der Kripo Mannheim im Heim auf, Lauer, glaube ich, hieß er. Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört. Er befragte zusammen mit seinem Assistenten, dessen Namen ich mir nicht gemerkt habe, einen nach dem anderen. Die beiden wollten alles wissen über die Schwestern und die Pfleger. Ich lobte Brockmann, bescheinigte ihm ein hohes Maß an Einfühlsamkeit. Der Kommissar ordnete eine Obduktion an. Erhöhte Werte von Morphin, einem Schmerzmittel, das bei hoher Dosierung einen Atemstillstand verursachen kann, und Saroten, einem Antidepressivum zur Ruhigstellung, das bei falscher Anwendung zu Herzrhythmusstörungen führt. Beide Medikamente wurden Frau Anger regelmäßig verabreicht, so dass das Obduktionsergebnis nicht überraschte. Die Werte waren nicht so weit erhöht, dass man zweifelsfrei davon ausgehen konnte, die Medikamente hätten den Tod herbeigeführt. Die Ermittlungen verliefen im Sande. Unter der Hand wurde weiter getuschelt. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, auch aus dem Zimmer von Frau Anger sei Geld verschwunden.

 

 

Ich hielt meine Augen und Ohren offen. Ich belauschte das Pflegepersonal. Das war gar nicht schwer. Ein Alter in der Ecke des Flurs fällt nicht auf, kein Grund, ein Gespräch zu unterbrechen. Einmal war von fehlenden Medikamenten die Rede. Dann ging das Gerücht um, ein Pfleger habe auf eigene Faust Medikamente nachbestellt. Bei keinem der Opfer gab es verdächtige, unerklärliche Einstichwunden. Manuel, der Medizin studiert, klärte mich auf.

„Kein Problem. Du spritzt die tödlichen Injektionen einfach über bereits gelegte Zugänge.“

Sieben der acht Todesfälle, fand ich heraus, ereigneten sich nachts. In allen Fällen hatte Brockmann Nachtdienst gehabt. Er half den herbeigerufenen Ärzten bei der Wiederbelebung. Am nächsten Tag nahm er sich meist Zeit, um mit den trauernden Angehörigen ein tröstendes Gespräch zu führen. Niemand schöpfte Verdacht. Das Sterben gehört in einem Pflegeheim zum Alltag.

 

 

„Brockmann ist mein Engel.“

Hatte Frau Miller gesagt. Ein Todesengel ist einer, der andere Menschen in den Tod schickt. Der es ihnen leichter macht zu gehen. Der sie von ihrem Leiden befreit. Der ihnen Erlösung bringt. Ein Todesengel ist einer, der durch die Flure schwebt, an die Türen klopft. Aber ein Engel zertritt keinen hilflosen Frosch!

 

 

Ich stemmte die Hanteln. Ich bearbeitete den Expander. Bis zur Erschöpfung. Ich legte weite Strecken mit dem Rollator zurück, für meine Verhältnisse weit, Sie wissen, was ich meine. Das Rauchen schränkte ich notgedrungen ein. Meine Ausdauer nahm zu, meine Armmuskeln wurden kräftiger. Manuel machte sich über mich lustig. Wenn ich so weitermache, könne ich beim Marathon mitlaufen. Nach vier Wochen fühlte ich mich ausreichend trainiert.

 

 

Jetzt kam der schwierigste Teil. Wie konnte ich Brockmann auf mich aufmerksam machen? Wir hatten bisher erst einige Sätze gewechselt. Brockmann hielt sich an die älteren Damen, von denen er annahm, sie seien betucht. Ich musste den Pfleger ködern. Aber wie? Manuel brachte mich unbewusst auf eine Idee. Wenn mein Enkel kommt, stecke ich ihm ab und zu einige Euro zu. Er wehrt sich immer. Ich weiß aber, dass er sich über das Geld freut und es auch gebrauchen kann. Sein Vater, mein lieber Herr Sohn, ist nicht sehr großzügig. Brockmann musste glauben, dass ich Geld im Zimmer bunkerte. Ab sofort gab ich Manuel das Geld nicht mehr in meinem Zimmer, sondern in aller Öffentlichkeit, mal im Aufenthaltsraum, dann im Hof oder im Garten beim Teich. Nach einigen Versuchen wurde Brockmann endlich auf mich aufmerksam. Eines Nachts setzte er sich neben mich auf die Bank am Froschteich und bot mir eine Zigarette an. Ich bat ihn um seinen Rat.

„Mein Enkel hat nächsten Monat Geburtstag. Ich möchte ihm ein Auto schenken.“

„Was wollen Sie denn ausgeben?“, fragte Brockmann zurück.

„Kommt auf das Auto an.“

„Und die Bezahlung?“

„Bar, natürlich!“, sagte ich.

In den folgenden Tagen richtete Brockmann es ein, dass immer er mir das Essen brachte. Er unterbreitete mir einige Vorschläge. Dabei versuchte er mich dezent über meine Besitzverhältnisse auszufragen. Meine vagen Antworten schienen ihn nur noch anzustacheln. Eingestreute Bemerkungen, dass die Banken heutzutage nichts mehr taugten und das Geld zu Hause am sichersten aufgehoben sei, taten ein Übriges.

 

 

Es ist Vollmond. Ich habe mich so postiert, dass Brockmann, wenn er vor mir steht, sich mit dem Rücken zum Teich befindet. Ich halte mich mit der Rechten am Rollator fest, damit ich nachher nicht das Gleichgewicht verliere. In meiner Linken, ich bin Linkshänder, befindet sich mein Gehstock, den mir Manuel besorgt hat. Ein Prachtexemplar mit einem massiven Messingknauf. Ein Kieselstein beult meine Hosentasche aus. Ich stehe noch nicht lange da, als er aus der Eingangstür tritt. Am Rosenbeet gabelt er einen vergessenen Rollstuhl auf. Den Rollstuhl vor sich herschiebend, kommt er auf mich zu.

„Alles Roger oder was?“

Sein Standardspruch. Auf eine Antwort wartet er nicht. Er deutet auf den Rollstuhl.

„Damit geht es doch bequemer. Ich bringe Sie hoch.“

Bilde ich es mir ein oder klingt seine Stimme auf einmal gar nicht mehr so verbindlich und freundlich. Er steht vor mir. Mit dem Rücken zum Teich. Für einen Moment lasse ich den Rollator los, greife nach dem Stein und werfe ihn in den Teich. Das Quaken der Frösche zerreißt die Stille der Nacht. Brockmann fährt herum. Ich hole mit dem Gehstock weit aus.

 

 

Tausendmal habe ich mir diese Szene ausgemalt, habe sie sogar geträumt. Im Traum kratzte sich Brockmann nach dem Schlag am Hinterkopf, drehte sich um, schüttelte leicht benommen den Kopf.

„Aber, aber, Alter!“

Und griff in seine Jacke. Bevor er die Spritze aus der Jacke ziehen konnte, erwachte ich jedes Mal aus meinem Traum.

 

 

Ich lege alle Kraft in den Schlag. Ich weiß, ich habe nur diesen einen Versuch. Das Geräusch beim Auftreffen des Messings auf der Schädeldecke wird mich bis ins Grab verfolgen. Brockmann sackt lautlos zur Seite und fällt genau in den Rollstuhl. Ich finde das äußerst zuvorkommend. Vielleicht ist er doch nicht so ein schlechter Mensch. Was habe ich mir Gedanken gemacht, wie ich den stämmigen Pfleger zum Teich zerren könnte! Ich schiebe den Rollstuhl zum Teich vor, stelle die Bremse fest, kippe Brockmann aus, setze mich an den Rand des Teiches und drücke ihn mit dem Gehstock unter Wasser. Als keine Luftblasen mehr zu sehen sind, zünde ich mir eine Zigarette an. Die habe ich mir verdient. Übrigens, ich kann es gar nicht glauben. Die Frösche im Teich sind still. Mucksmäuschenstill. Die ganze Zeit schon.

 

(Copyright: Wellhöfer Verlag Mannheim)

 

 

 

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