Walter Landin
Wenn erst Gras wächst

Pfälzische Verlagsanstalt Landau, 140 Seiten, Erscheinungstag: 3. Oktober 1985
früherer Verkaufspreis: 18,00 DM, im Buchhandel nicht mehr erhältlich
Bezug nur über den Autor 

 

Auszug aus der Titelgeschichte
Wenn erst Gras wächst

In meinem Kopf sind viele Mosaiksteine. Aber ich weiß nicht, wie das Bild aussieht, weiß nicht, wo und wie ich anfangen soll. Seit Tagen denke ich über den Anfang nach, schreibe Notizzettel voll, lege sie sorgfältig in die Ablage. Damals, als die Christbäume am Himmel standen. Das hört sich abgegriffen an. Damals, als meine Großmutter sagte, damals, als die Bombe einschlug. Damals, als Anton Kocher Feldschütz im Dorf war und Ortsgruppenleiter. Damals, als der junge englische Flieger abgeschossen wurde. Ich schreibe jung. Das ist eine Behauptung. Alle, die ihn in dieser Nacht gesehen haben, sind tot. Die Frau des Polizisten, dann die Getsche, Franziskas Patentante und Anton Kocher, der ihn mit vorgehaltener Pistole abholte. Niemand, den ich fragen könnte. Der junge Flieger, ich bleibe dabei. Jung paßt in mein Konzept, vor allem für das was, was später kommt. Damals, als die Bahnhofstraße noch nicht geteert war. Ich habe die Straße so nicht gesehen, aber vorstellen kann ich es mir lebhaft. Ein einziges Schlammfeld im Herbst, erzählte Urgroßmutter. Und wenn der Winter zu Ende ging. Traurig schaute ich auf die langweilige, saubere Straße. Damals, als die Bahnhofstraße noch nicht geteert war. Das ist mein Anfang.

Damals im Winter 1944. Es ist Anfang Dezember und ein Sonntag. sicher ist es kalt. Der Morast, durch den vor wenigen Wochen noch abgemagerte Pferde die Fuhrwerke, mit Rüben beladen, zur Dorfwaage zogen, dieser Morast ist festgefroren. Wenn Fanziska morgens zum Bus geht, stampft sie mit ihren Stiefelabsätzen auf die kleinen Eisseen. Das knistert. Es ist Abend, Franziska steht im Hof. Es ist klar, und die Sterne funkeln. Franziskas Gesicht ist rot. Die gute Stube drinnen ist reichlich beheizt... Franziska legt den Kopf zurück und betrachtet die Sterne... Die Christbäume sind wunderschön, es werden immer mehr, bald ist der Himmel voll davon. Franziska weiß, daß die Christbäume schön aussehen, weiß aber auch, was auf sie folgt. Aber schön sind sie doch. Franziska reißt sich los, geht ins Haus zurück. Sie kommen wieder, ruft sie, ganz viele. Ihre Großmutter ist schon im Keller, als die Sirene heult. Franziskas Mutter kommt als letzte... Ist oben alles verdunkelt? Ging so schnell heute. Vielleicht kommen sie gar nicht. Wird schon alles in Ordnung sein. Und wenn nicht? Vorschrift ist Vorschrift. Wer schaut nach? Mutter, natürlich, wer sonst?... Jetzt müßten sie das Brummen der Motoren hören, weit weg noch, näher kommend. Die Flugzeuge müssen jetzt bald da sein. Ich kann sie nicht aufhalten. Ich kann nicht mehr abschweifen. Ich habe diesen Fliegerangriff nicht erlebt. Ich habe keinen Fliegerangriff erlebt. Ich erzähle eine Geschichte aus einer Zeit, in der ich nicht gelebt habe, die Geschichte von Kocher und dem jungen englischen Flieger. Ich erzähle Erzähltes. Und das schließt Vergessen mit ein, Nicht-drüber-reden-Wollen, Weglassen, Erfinden, Verdrängen, Idealisieren. Und Anekdoten, immer die gleichen, wieder und wieder erzählt. Die Flieger sind jetzt ganz nah. Die im Keller hören die ersten Einschläge im Unterdorf. Scheiß Christbäume, denkt Franziska.


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