Leseprobe aus: "Bluthitze (2009)

 

 

Prolog

 

„Ihre Mutter ist schon ganz unruhig!“

Klang da in der Stimme der Schwester ein Vorwurf mit?

„Sie sind spät dran heute.“

Tatsächlich, ein Vorwurf.

„Ja, ja, ich weiß, es tut mir leid.“

Die Schwester stand neben ihm und stemmte die Hände in die Hüften. Er beachtete sie nicht, stand mit dem Rücken zu ihr und drückte auf den Knopf am Fahrstuhl und wartete. Mit einem Schnauben verschwand die Schwester.

 

 

Mutter vergisst alles, dachte er. Alles, was man ihr erzählt. Nach kurzer Zeit. Dass ich ihr Sohn bin, das weiß sie manchmal auch nicht. Aber dass ich sie besuche, jeden Samstag pünktlich um halb fünf, das vergisst sie nicht, dachte er. Komisch, er verstand das nicht. Aber wie soll man auch etwas verstehen, das man sich so wenig vorstellen kann, dachte er. Endlich kam der Fahrstuhl, die Tür glitt auf, er drückte auf die Drei. Er war allein im Fahrstuhl.

 

 

An Dinge, die weit zurückliegen, an die kann sie sich erinnern. Wie er sich als Fünfzehnjähriger in diesem heißen Sommer den Arm bricht. Dieser Sommer ist genauso heiß wie damals. Wie er mit seiner ersten Lohntüte nach Hause kommt, Ausbildung als Bohrwerksdreher bei Bopp & Reuther. Wie er zum ersten Mal so richtig betrunken ist. Wie er ein Mädchen zum Sonntagsbraten mitbringt. Daran erinnert sie sich. An Dinge, die ihm schon längst entfallen sind. Mutter erinnert sich. Selbst an den Namen des Mädchens.

 

 

Der Fahrstuhl bremste ab, wieder glitt die Tür auf. Er sah sie schon vom Fahrstuhl aus. Sie stand unbeweglich vor ihrer Tür, blickte in seine Richtung.

„Hallo, Mutter“, rief er ihr zu und winkte. Sie machte eine Handbewegung, die aussah, als ob sie etwas in den Müll werfe. Dann drehte sie ihm den Rücken zu. Demonstrativ, fand er. Als er direkt hinter ihr stand und seine Arme nach ihr ausstreckte, drehte sie sich um und sagte: „Warum lässt du mich so lange warten. Ich stehe schon eine Ewigkeit hier.“

„Ich hatte zu tun, Mutter“, sagte er und dachte an diese Person, die ihn so gereizt hatte.

„Zu tun, zu tun“, äffte sie ihn nach. „Bin ich dir nicht mehr wichtig?“

„Es wird nicht wieder vorkommen, Mutter. Natürlich bist du mir wichtig. Der wichtigste Mensch in meinem Leben bist du. Es wird nicht wieder vorkommen, Mutter.“

„Komm her, mein Junge“, sagte sie und strich ihm über die Haare. Sie musste sich dafür auf die Zehenspitzen stellen.

„Komm rein“, sagte sie. „Es gibt Kaffee.“

„Und ich habe Streuselkuchen mitgebracht.“

Es war wie immer. Wäre da nicht das Treffen vorher gewesen.

Das weiße Sofa. Das Treffen mit dieser Person. Deswegen war er so spät gekommen. Es klopfte. Eine Schwester brachte das Abendessen. Zum Glück war es nicht die von vorhin.

„Alles gut aufessen!“, sagte die Schwester und ihre Stimme war eine Spur zu laut.

„Sie brauchen nicht zu schreien. Ich höre noch gut.“

Es war wie immer.

„Sie hat eine schlimme Nacht gehabt. Wir mussten ihr eine Spritze geben“, flüsterte die Schwester ihm zu, als sie das Zimmer verließ.

 

 

Er hatte sie unterschätzt, diese Person. Sie hatte so unbedarft geklungen am Telefon, so ungefährlich. Ungefährlich, ja, richtig locker, so hatte das Treffen begonnen. Sie hatte ihn erzählen lassen, hatte ihn in Sicherheit gewogen, ihn förmlich eingelullt. Und hatte ganz plötzlich und unvermittelt zugestoßen. Diese Person hatte ihn kalt erwischt. Er war überrascht, was sie alles kombinierte. Ihre Schlussfolgerungen verblüfften ihn. Im Grunde wusste diese Person alles. Was hätte er anderes tun können. Das weiße, blutige Sofa. Ihm war keine andere Wahl geblieben. Zum Glück hatte er alles dabei gehabt. Nur für den Notfall, hatte er vorher gedacht.

 

 

„Wer sind Sie? Was wollen Sie in meinem Zimmer? Ich kenne Sie nicht. Ich habe Sie noch nie gesehen. Wie kommen Sie in mein Zimmer? Fassen Sie mich nicht an. Ich rufe die Schwester. Ich habe Angst vor Ihnen.“

Es war wie immer. Er hob abwehrend die Hände.

„Kein Problem, ich gehe ja schon!“

„Schwester, Schwester, Hilfe, Hilfe!“

Ihre Stimme überschlug sich.

„Ist ja schon gut, ich gehe, ich gehe ja schon, ich bin ja schon weg“, sagte er.

Er verließ das Zimmer. Sie schrie weiter. Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Schwester kam. Es war wie immer.

 

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Montag, 16. Juli 2007

 

 

 

Null

 

Kriminalhauptkommissar Lauer von der Kriminalpolizei Mannheim, Dezernat 11, Tötungsdelikte, Vermisstenfälle, Brand- und Sprengstoffdelikte, hob den Kopf. Auf dem Flur, noch etwas entfernt, polterte es und er glaubte etwas von „Idioten“ zu hören. Im Zimmer war es schwül. Wäre es Winter gewesen, wäre er aufgestanden und hätte die Heizung, die sein Kollege Meißner immer viel zu hoch einstellte, zurückgedreht. Aber es war Juli, seit Tagen war es drückend heiß, eine Hitzewelle lag über der Stadt. Das Fenster zu den L-Quadraten war weit geöffnet. Aber das änderte nichts daran, dass es in dem Zimmer der beiden Kommissare stickig war. Der Lärm kam näher und Lauer glaubte Meißners Stimme zu erkennen, laut und aufgebracht. Aber das war eigentlich unmöglich. Meißner war ruhig und besonnen. Die ruhe in Person!

„Bin ich hier von lauter Idioten umgeben?“

Es gab keinen Zweifel. Es war Meißner, der auf dem Flur schrie. Lauer fiel die Mannheimer Bürgerin ein, die das Polizeipräsidium auf Trab hielt. Ihr Anruf bei der Polizei war ins Internet gestellt worden und entwickelte sich bei You Tube zum absoluten Renner. Die Mannheimerin wurde über Nacht berühmt, wurde in Talk-Shows herumgereicht und erhielt bei einem Privatsender einen Exklusivvertrag. Das Problem war nur, dass es bei der Polizei eine undichte Stelle geben musste, denn wie sonst hätte der interne Anruf plötzlich im weltweiten Netz auftauchen können.

„...weil der anner määnt, er wär der Idiot“, war ein Satz der Mannheimerin, dessen Sinn sich Lauer nicht ohne Weiteres erschloss, über den er jedoch herzlich lachen konnte. Meißner hatte sich sicher nicht im Begriff vertan, wenn er schon wieder auf dem Flur lautstark fragte, ob er hier von lauter Idioten umgeben sei.

 

 

Die Tür wurde aufgerissen und gleich danach wieder zugeschlagen. Meißner ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen.

„Was sind das bloß für Idioten! Schicken mich …“

„Jetzt machen Sie mal halblang, Meißner“", sagte Lauer zu seinem Kollegen.

„Sie meine ich gar nicht.“

„Da bin ich aber wirklich beruhigt.“

Meißner trat gegen den Papierkorb, der umkippte. Zusammengeknülltes Papier verteilte sich neben dem Schreibtisch.

„Was ist denn los, erzählen Sie!“

Julian Meißner fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, schüttelte den Kopf und atmete tief aus.

„Um halb sechs ruft die Einsatzstelle bei mir zu Hause an. Ich war gerade eingeschlafen. Meine Frau hatte eine schlimme Nacht hinter sich. Sie ist wieder schwanger, das dürfte inzwischen auch zu Ihnen durchgedrungen sein. Es gibt Komplikationen, müssen Sie wissen. Ich musste mehrmals aufstehen, Tee für meine Frau machen, mich um die Kinder kümmern, die aufgewacht waren.“

„Kommen Sie zum Wesentlichen“, drängte Lauer, der natürlich wusste, dass Meißner glücklich verheiratet war, dass er zwei Kinder hatte, einen Jungen im Alter von vier Jahren und ein Mädchen von sieben, dass seine Frau im sechsten Monat schwanger war, eine komplizierte Schwangerschaft, wie Meißner immer wieder betonte. Meißner ignorierte Lauers Einwand.

„Ich könnte jetzt einen Kaffee vertragen. Gegen Morgen ging es besser.“

Er war jetzt wieder der durch nichts aus der Ruhe zu bringende Kollege, den Lauer kannte und den er schätzte.

„Prompt meldet sich die Einsatzstelle. Ich bin noch keine fünf Minuten eingeschlafen. Und auch meine Frau kann sich endlich ein wenig entspannen. Ein Anruf sei gerade eingegangen, Mord und Totschlag, meldet der diensthabende Beamte, nennt mir die Adresse, ‚Eigene Scholle’, mein Gott, denke ich, normalerweise werden da die Kollegen von der Streife gerufen, wenn ein sturzbesoffener Ehemann mal wieder seine Angetraute grün und blau geschlagen hat.“

„Meißner, lassen Sie die Stammtischparolen. So kenne ich Sie ja gar nicht. Wer war das Opfer? Wer wurde totgeschlagen?“

„Immer der Reihe nach. Als ich am Tatort ankomme, sind schon zwei Streifenwagen da. Die Kollegen haben das Gelände abgesperrt und die ersten Spuren gesichert. Ein Polizeiobermeister erstattet mir Bericht. Ein 72-jähriger Mann mit Krücke präsentiert mit stolz geschwellter Brust das Opfer.“

Meißner konnte nicht weiterreden, ein Lachanfall schüttelte ihn. Lauer starrte die Zimmerdecke an.

„Ein Eichhörnchen!“

Für einen Moment glaubte Lauer, sein Kollege sei übergeschnappt.

„Meißner, was erzählen Sie da?“

„Das Opfer, das Totschlagopfer, ein Eichhörnchen. Aber der Reihe nach. Um halb sechs sei das Eichhörnchen über eine offene Terrassentür in das Haus eingedrungen, bringe ich in Erfahrung, sei schnurstracks zum Schlafzimmer gehüpft und habe die schlafende Frau gebissen. Mit dem festgebissenen Tier am Körper sei die Frau im Nachthemd auf die Straße gelaufen und habe es geschafft, das Eichhörnchen abzuschütteln. Das wild gewordene Eichhörnchen habe sich auf einen gerade vorbeikommenden Bauarbeiter gestürzt, zur falschen Zeit am falschen Ort, fällt mir da nur ein, habe dem Bauarbeiter in die Wade gebissen und sei in einen Nachbargarten geflüchtet. Schließlich habe es dort einen alten Mann angefallen, der konnte nicht schlafen und vertrat sich im Garten die Füße. Das Eichhörnchen habe sich in den Daumen des Mannes verbissen.“

Meißner legte eine Kunstpause ein und wechselte danach von der indirekten Beschreibung ins Präsens.

„Bei dem Alten gerät das arme Eichhörnchen jedoch an den falschen. Wütend schlägt der Rentner mit seiner Krücke auf das Tierchen ein, von dem nur noch ein blutiger Klumpen übrig bleibt. Die Leiche wird jetzt vom Veterinäramt auf Tollwut untersucht.“

Jetzt war es an Lauer zu lachen.

„Das gibt eine Pressekonferenz!“

In das Lachen der Kommissare hinein klingelte das Telefon. Lauer nahm ab.

„Ja, ja, wo? Aha. Gut. Ja. In zehn Minuten sind wir da.“

Er legte auf.

„Der Kaffee muss warten“, sagte er zu seinem Kollegen. „Die Pflicht ruft. Ein Toter im Auto, Wallstadter Straße, einen Kilometer vor Ilvesheim.“

Meißner sah seinen Kollegen ungläubig an.

„Sie wollen mich aber nicht auf den Arm nehmen? Davon habe ich für heute genug.“

„Wo denken Sie hin! Es geht los, Meißner, die Pflicht ruft.“

 

(Copyright: Wellhöfer Verlag Mannheim)

 

 

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